2023
Nachruf auf Thomas Wulffen - Danièle Perrier
Lieber Thomas,
Bescheiden wie Du warst, bist Du am 8. Mai in Berlin Sang und Klanglos von uns gegangen. Wir trauern um Dich, vermissen Deine Betriebsamkeit mit und für die Künstler, für die Kunst, Deine stete Hinterfragung, wie Kunstkritik an das JETZT adaptiert werden könne und wie das Publikum auf der Entdeckungsreise der so vielfältigen Kunstarten mitgenommen werden kann. Du prägtest bereits in den 80er Jahren den Begriff „Betriebssystem Kunst“, was bei mir Assoziationen mit dem wunderbaren Film von Charlie Chaplin „Modern Times“ weckt, wo jede Drehung eines Rädchens die Bewegung des nächsten bedingt. Kunstproduktion, die sich mit dem Rad der Zeit wandelt, bedingt, dass auch Kritik sich den immer neuen Anforderungen anpasst und neuen Sichtweisen öffnet.
Wie sollte man Dich als AICA Mitglied anders ehren, als durch Einblicke in Deine Präsidentschaft (2008-2012). Du hast zahlreiche Treffen des Präsidiums organisiert und einige Mitgliederversammlungen geleitet. Dabei hast Du zum ersten Mal alle Meetings von Köln nach Berlin verlegt. Gepaart mit Deiner großen Begeisterungsfähigkeit konntest Du damit zahlreiche Kollegen und Kolleginnen der Hauptstadt zur aktiven Teilnahme motivieren.
Es war Deine Idee den 47. Internationalen AICA Kongress nach Berlin zu holen. In dieser Stadt, wo so viele Kulturen aufeinanderprallen und im Feuer der Diskussionen um das Humboldt Forum, wolltest Du analysieren, wie die Idee Humboldts sich auf Kunstkritik umsetzen lässt und gabst gleich auch eine Richtung an:
„Indem das Humboldt-Forum den klassischen, abendländischen Blick auf die Welt durch außereuropäische Sichtweisen ergänzt, … neue Zugänge zu „Weltwissen“ und „Weltkulturen [öffnet]“.
Schon damals ging es Dir darum, der westlichen Zentriertheit der Kunstbetrachtung zu entsagen, zu begreifen, dass „Zeitgenössische Kunst [ ] unterschiedlichen lokalen Verwertungszusammenhängen unterliegt, … der Islam [ ] auch unhysterisch in den Blick [genommen werden] kann und die Diskussion um das Humboldtforum [ ] entprovinzialisiert werden [muss]“.
Auffallend ist bei Deinem Konzept, dass eine Frage die andere jagt. „Was wird in der Kunstkritik WIE wahrgenommen? …Worauf richtet sich die Wahrnehmung?... Was sind die blinden Flecken?...
Und :„WIE funktioniert diese Ausrichtung des Blicks? Da es nirgendwo noch normative Ästhetiken gibt (oder?) stellt sich die Frage nach den Regeln der Inclusion/Exclusion. Welche bildungsbedingten, interessemäßigen, medienerzwungenen, ökonomischen oder gesellschaftlich gesetzten Rahmenbedingungen bestimmen die Auswahl der Wahrnehmung – und wieso können sich diese Umstände gegen ein eigentlich prinzipiell individuelles, nicht-normatives ästhetisches Urteil durchsetzen?“
„ WOZU ist die wie auch immer geartete Ausgrenzung/Eingrenzung des Blicks (unabhängig vom eigentlichen Urteil) von Nutzen? Werden durch Nichtwahrnehmung benennbare Interessen bedient?“
Und zu den unterschiedlichen Kontextstrukturen, die Kunst und Kritik bedingen, erwähnst Du schon damals die neuen Nationalismen, die neuen Fundamentalismen, die auch im Bereich der Kunstszene sich entwickeln. Man glaubt das Jahr 2023 zu schreiben.
Wie schade, dass es Dir damals nicht gelungen ist, die nötige finanzielle Unterstützung zur Realisierung Deines brillanten Konzepts zu finden. Doch Dein Engagement für die AICA blieb ungeschmälert und so gelang es Dir, zusammen mit Dirk Schwarze, 2012 zumindest den Postkongress des in Zürich statt Berlin abgehaltenen Internationalen AICA Kongresses zur documenta nach Kassel zu holen. Alle berichten, dass es ein sehr schöner und entspannter Postkongress gewesen sei.
Die, die Dich gekannt haben, werden Deine Liebenswürdigkeit nicht vergessen und die anderen werden auf die Saat Deines kritischen Denkens aufbauen.
Danièle Perrier
Erinnerung an Thomas Wulffen
In diesem Artikel würdigt das Künstlerpaar Dellbrügge De Moll die "kriminalistische Suche" von Thomas Wulffen auf poetischer Art.
Die Fiktion ist erschienen in below papers 1, Fiktion, 1993 und below papers 2, Internationale Streategien, 1994 - eine Zeitschrift die Thomas Wulffen ins Leben gerufen hatte.
zum Artikel [59 KB]