Jury: Danièle Perrier, Uta M. Reindl, Ludwig Seyfarth, Sabine Maria Schmidt

Das Sprengel Museum Hannover hat eine noch relativ junge und zugleich höchst belebte Museums- und Sammlungsgeschichte. Heute verfügt es über hervorragende Bestände des 20. und 21. Jahrhunderts, eine bewusste städtebauliche Verankerung und eine sehr konsequente, eigene, und im positiven Sinne herausfordernde Architektur.
Nicht das einzelne Gebäude mit einer herausstechenden, baukünstlerischen Gestalt, sondern der Entwurf eines Gesamtkonzeptes, das sich städtebaulich einbringt, prägte Ende der 1970er Jahre die Bauideen der Architektengruppe Peter und Ursula Trint (Köln) und Dieter Quast (Heidelberg).
Das Haus für die Kunst am Maschsee sollte nicht überwältigen, sondern einbeziehen. In seinem Innern prägt eine zentrale Passage das Gebäude, die Museumsstraße. Sie wurde mit dem zweiten Bauabschnitt 1992 auf eine Länge von 220 m erweitert. Gute Architektur ihrer Zeit wurde und wird immer kontrovers diskutiert, das galt zunächst auch für die jüngste Bauerweiterung unter dem Schweizer Architekturbüro Meili & Peter.

So war es eine kluge Entscheidung, mit der Eröffnung des Erweiterungsbaus 2015, ein dezidiertes Ausstellungsprogramm zu entwickeln, das sich der thematischen Trias Architektur, der Sammlungsgeschichte und der Geschichte moderner Kunst in Hannover widmete.

Mit der Ausstellung „Zehn Räume, drei Loggien und ein Saal: Das neue Sprengel Museum“ wurde es möglich, mittels zeitgenössischer Rauminstallationen die „tanzenden Räume“, so benannt wegen der alternierenden Raumhöhen, intuitiv kennenzulernen, ungewöhnliche Passagen und Verbindungstrakte zu entdecken. Darunter das neue Herzstück des Hauses: der Calder Saal, die zwei großen Panoramafenster und die bisweilen schwebenden Erscheinungsformen von Raumkuben, kurz: die so vielen Details eines komplexen Gebäudes, das erkundet werden möchte und muss.

Welche beachtlichen Werkgruppen sich in der Sammlung über die Jahrzehnte zusammengetragen haben, zeigte die Ausstellung „130% Sprengel. Sammlung Pur“. Zunächst überrascht von der Mathematik im Titel, war mir persönlich beim ersten Besuch im neuen Hause schnell einsehbar, dass auch hier die Summe aller Teile weit mehr als das Ganze ist.
Hier war es erstmals möglich, auf annähernd 6000 qm eine Sammlungsgeschichte „in einem Guss“ und mit zahlreichen ungewöhnlichen Dialogen zu erleben. Dialoge zwischen den Kunstwerken, den Epochen und zwischen den Menschen. Die großen Namen: Max Ernst, Fernand Léger, Paul Klee, Hannah Höch, Pablo Picasso, Emil Nolde und Max Beckmann, Max Beckmann, Max Beckmann…..; Brücke, Blauer Reiter, Dadaismus und Nouveau Realisme…in Dialog mit Neuentdeckungen, zeitgenössischen Positionen, dem Kosmos Schwitters, der Kunst nach 1945, der fotografischen Sammlung und nicht zu vergessen der Kunst seit 1910 aus der grafischen Sammlung. Man konnte sich nicht sattsehen. Dazu die ungewöhnliche aufwendige 13-teilige Videoinstallation „Manifesto“ von Julian Rosefeldt, die den in Manifesten geäußerten Utopien und Idealen des 20. Jahrhunderts ein eigenes Denkmal setzte. (Die Arbeit hat es nun als Filmversion in die Kinos geschafft).

Um ein Museum wirklich zu verstehen, bedarf es der Berücksichtigung und Sichtbarmachung der übergreifenderen Zusammenhänge. Im Sprengel gehören dazu nicht nur die herausragenden Sammlungskonvolute, sondern auch die explizite Auseinandersetzung moderner Kunst mit Räumen und Räumlichkeit, interdisziplinär, wie es wegweisend unter Alexander Dorner in Hannover praktiziert wurde. Dazu zählen utopische Räume, als Gegenentwürfe oder Perfektionierungen realer gesellschaftlicher Verhältnisse, ebenso wie heterotopische Räume (wie sie Foucault bezeichnete), also Räume, die wirkliche und wirksame Orte sind, tatsächlich realisierte Utopien, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind; Widerlager, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, in der Kultur sich repräsentiert, das ist letztlich auch das Museum, immer Ort körperlicher Erfahrung.

Alexander Dorner (1893-1957) war einer der Protagonisten, an die das Thema der dritten wichtigen Ausstellung erinnerte: eine Ausstellung, die eine große Ära der kulturellen Moderne in Hannover beleuchtete:.“Revonnah“. Kunst der Avantgarde in Hannover, 1912–1933.
Der Kunsthistoriker, Präsident der Kestner-Gesellschaft und Museumsdirektor des Provinzialmuseums Hannover, später beigesetzt auf dem Stadtfriedhof Stöcken, richtete von 1926-1928 gemeinsam mit El Lissitzky das „Kabinett der Abstrakten“ ein, das nun für die Wiedereröffnung rekonstruiert wurde. Auch Laszlos Moholy-Nagys „Raum der Gegenwart“ wurde von Dorner nachgebaut. Dorner und Lissitzky retteten damals letztlich Kunstwerke des russischen Konstruktivsten und Suprematisten Malewitsch vor den Diktaturen. In Hannover hatte Lissitzky 1922 die Kunsthistorikerin Sophie Küppers kennengelernt, 1927 heiratete das Paar und lebte zunächst in Moskau. Lissitzky hat viele Spuren in der Stadt hinterlassen, auch als Werbefachmann, z.B. für die Firma „Pelikan“, mit deren Füllfederhaltern zahlreiche Schülergenerationen bis weit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts aufgewachsen sind. Tinte, Schreibband, Kohlepapier, das waren die wichtigsten Gestaltungsmittel, auch in der Verwaltung. Amüsant und aufschlussreich, und im Kabinett zu sehen, war für mich u.a., dass Künstler und Graphiker wie Schwitters oder Dorner, sogar Einfluss auf die Gestaltung der Formulare/Formblätter der Stadt Hannover hatten, eine einprägsame Intervention.

Hannover als Ort, an dem wichtige Künstler der Moderne in Malerei und Architektur, der Grafik-, Fotografie- und Plakatkunst zuerst in Deutschland zu sehen waren? War das mal so? Daran erinnern nun zahlreiche Ausstellungsprojekte des Sprengel-Teams unter Leitung von Rainhard Spieler . „Hannover ist die erste Kunststadt in Deutschland“, notiert Schwitters 1926 im „Hannoverschen Tagblatt“. Und er analysierte gleich die Ursachen dieser Kunstblüte: Hannover habe „den Vorteil, nicht an veraltete Traditionen gebunden“ zu sein, die 1916 gegründete Kestnergesellschaft habe „ungefähr alles“ gezeigt, was künstlerisch bedeutsam sei. „Und unser Museum ist das einzige in Deutschland, das einen Raum für abstrakte Gemälde hat.“ (Das war als Hommage an Lissitzkys „Kabinett der Abstrakten“ gedacht, damals im Provinzialmuseum Hannover.) Heute gibt es zahlreiche Künstlerräume, darunter auch den legendären Merzbau von Kurt Schwitters, Daniel Spoerris „Gekippten Raum“ oder James Turrells „Wahrnehmungszelle ‚Kopfsprung’“.

Doch „Kultur“-geschichten sind nicht kontinuierlich. Zwischendurch fiel die Stadt Hannover durchaus auch immer mal in heftigen Winterschlaf. Die großen Schenkungen des Mäzenatenpaars Margit und Bernhard Sprengel (1969-1979) als Ausgangspunkt des Neubaus des Museums (1979), die von Giesel, Gauditz und Riebesehl betriebene „Spectrum Photogalerie“, die 1979 in das Museum integriert wurde und einen weiteren Schwerpunkt des Museums markiert, bedeutende Nachlassstiftungen als Lohn für gute Arbeit und Engagement, das waren immer wieder Ereignisse, die einen neuen Frühling der Kultur in der niedersächsischen Hauptstadt einläuteten.

Seit 1994 beherbergt das Sprengel Museum Hannover das Archiv des hannoverschen Künstlers Kurt Schwitters und verfügt über die umfangreichste Dokumentation zum Werk und Leben des Künstlers. Hier wurde von Karin Orchard und Isabel Schulz der „Kurt Schwitters. Catalogue raisonné“ in 3 Bänden (2000–2006) publiziert; seit 2010 entsteht in Kooperation von Isabel Schulz mit Prof. Ursula Kocher, Bergische Universität Wuppertal, die neue Edition „Alle Texte von Kurt Schwitters“. 10 Bände könnten es werden, der erste hat einen Umfang von 1000 Seiten. International werden Schwitters-Ausstellungen konzipiert und organisiert.

Niki de Saint Phalle, die durch ihre Nana-Skulpturen bekannt geworden ist, und deren Name mit ihren Skulpturen im öffentlichen Raum unmittelbar mit der Stadt Hannover verbunden ist, bereicherte das Sprengel Museum Hannover der Ära Ulrich Krempel durch ihre Schenkung von ca. 400 Werken im Jahr 2000.

Die Sammlung wuchs ständig. Das Haus beherbergt heute ebenso Werke aus dem Besitz des Landes Niedersachsen und der Stadt Hannover und seit einigen Jahren auch die der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, die ein wichtiger Förderpartner des Hauses geblieben ist. Sie hilft vor allem bei der Erwerbung fotografischer Werke, darunter von Rodney Graham, Wolfgang Tillmanns und der Umsetzung von Ausstellungsprojekten wie der aktuellen mit „Figuren. Rineke Dijkstra und die Sammlung des Sprengel Museum Hannover“. Vor allem der SPECTRUM_Preis, Internationaler Preis für Fotografie der Stiftung Niedersachsen, ebenso wie der Kurt Schwitters-Preis setzen hier wichtige Signale.

Die Zukunft des Museums liegt immer im Heute, in dem, was ein Museum heute leistet, zur Diskussion bringt und für die Geschichte verwahrt. Es verwahrt nicht zuletzt auch die Lust am Original, die Möglichkeit zur Urneugierde: reingehen, schauen, sich wohlfühlen, erfahren, lernen.
Und es verwahrt die Freiheit der Kunst in allen ihren Ausdrucksmöglichkeiten, eine Freiheit, die zunehmend unter Disposition steht.
Die Auszeichnung der AICA würdigt daher insbesondere, wie sich das Sprengel Museum seit der Wiedereröffnung konsequent und kontinuierlich mit vielseitigen Sonderausstellungen der modernen und zeitgenössischen Kunst widmet, dabei vor allem die eigene Sammlungsgeschichte aufarbeitet und in Dialog stellt. Forschungsprojekte und offene Diskursformen, wie der vom Museum initiierte theoretische Foto-Blog, der eine offene Plattform bietet, “um unter dem Horizont der Kunst über Fotografie zu diskutieren“, gehören ebenso dazu wie eine ausdifferenzierte Vermittlungsarbeit.
Die AICA möchte mit der Auszeichnung des letztlich städtisch getragenen Sprengel Museums auch den Standort der Stadt Hannover als wichtigen Standort hochrangiger Institutionen für zeitgenössische Kunst würdigen, in der Hoffnung, dass dieses auch zukünftig bei finanz- und kulturpolitischen Entscheidungen erinnert bleibt.

Text: Sabine Maria Schmidt