Shortlist-Jury: Bernhard Schulz, Boaz Levin, Julia Voss

An prominenter Stelle in Dresden, direkt am Anfang der Augustusbrücke über die Elbe, erhebt sich ein eindrucksvolles Gebäude, in der Stadt unter dem Namen „Blockhaus“ bekannt. Es beherbergt nach einem Komplettumbau das Archiv der Avantgarden (ADA) der Sammlung Marzona. Wenngleich das ADA erst im Mai 2024 an die Öffentlichkeit trat, ist es im strengen Sinne keine neue Institution. Sie ist vielmehr aus der privaten Eigentümerschaft in öffentliche Obhut übergegangen. Unter ihrem Leiter Rudolf Fischer erfolgt seither die Erschließung und Digitalisierung des Bestands, aber zugleich die Einrichtung spezifischer Ausstellungen aus diesem Fundus.

Die Besonderheit des ADA gegenüber herkömmlichen Archiven beschreibt Fischer so: „Egidio Marzona behandelt alle Materialien, die im Kontext der Kunstproduktion anfallen, gleichwertig. Das heißt, für ihn ist ein getippter Brief genauso bedeutsam wie ein Gemälde, eine kleine Skizze auf einer Serviette genauso wichtig wie ein Aquarell, eine Schallplatte genauso bedeutend wie ein gedrucktes Buch oder eine Künstlerzeitschrift. Dabei handelt es sich um vielfältige Materialien, die die künstlerischen Prozesse transparent machen.“

Mit der Ausstellung „Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls“ wurde das ADA eröffnet. Sie markiert das 100-jährige Jubiläum des Surrealismus. Wie kaum eine zweite Kunstrichtung äußert sich die des Surrealismus ganz besonders in schriftlicher Form, in Pamphleten, Zeitschriften und Büchern. Der Surrealismus besteht zum großen Teil aus Objekten, die genau das Sammelinteresse des Archivs von Marzona bezeichnen. Die Eröffnungsausstellung des Dresdner Hauses führte also nicht nur die Möglichkeiten des Archivs vor, sondern brachte die Vielgestalt des Archivs mit der spezifischen Produktionsweise des Surrealismus zu idealtypischer Deckung.

Einen weiteren Schwerpunkt der Sammlung, die Architektur, beleuchtet die zweite, gegenwärtige Ausstellung über „Visionäre Architekturen“, die, weil sie von Ungebautem handelt, gar nicht anders als mit dem spezifischen Material des Archivs erarbeitet werden konnte. Die Ausstellung ist als „work in progress“ angelegt, parallel zur schrittweisen Erschließung des Archivs in seiner Ganzheit. Das Archiv der Avantgarden erweist sich so als eine Institution eigener Art. Sie geht über die herkömmliche archivalische Form der Aufbewahrung vornehmlich schriftlicher Dokumente hinaus und umfasst auch Objekte auf der Grenze von Dokument und Kunstwerk und schließlich vollgültige Kunstwerke. Damit spiegelt die von Egidio Marzona zusammengetragene, mehr als anderthalb Millionen Objekte umfassende Sammlung die gattungsüberschreitende Eigenart der Avantgarde.

Bereits im Jahr 2016 machte Marzona seine Sammlung den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zum Geschenk. Die mutige Entscheidung des Freistaates, eine gänzlich neue Institution zu schaffen und finanziell auszustatten, soll mit der Auszeichnung des Archivs der Avantgarden als Museum des Jahres 2024 gewürdigt werden.

Text: Bernhard Schulz