Eröffnungsrede für die Verleihungen der Auszeichnungen der AICA für das Jahr 2023
16. Juni, Brücke-Museum, Berlin
von Kolja Reichert

Sehr geehrter Joe Chialo,

Liebe Lisa Marei Schmidt mit dem ganzen Team des Brücke-Museums,
liebe Sithara Weeratunga vom Museum der bildenden Künste in Leipzig,
liebe Susanne Pfeffer und lieber Lukas Flygare vom MMK Frankfurt!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der AICA!
Liebe Freund:innen der Kunst!

Ich freue mich sehr, heute als Präsident der deutschen Sektion des internationalen Kunstkritiker:innenverbands AICA dieses Fest zu eröffnen. Es ist eine Feier kuratorischer Exzellenz. Es ist eine Feier wissenschaftlicher Exzellenz. Es ist eine Feier künstlerischer Exzellenz. Es ist eine Feier der Weltoffenheit. Es ist eine Feier dessen, was uns zu Menschen macht: Neugierde. Empathie. Gerechtigkeit. Und Respekt vor jeder und jedem einzelnen.

Wir feiern die Auszeichnungen der AICA für das zurückliegende Jahr 2023. Die drei Preise, die die AICA hier heute vergeben darf, würdigen herausragende kuratorische und museumspolitische Leistungen, die Beispielcharakter haben:

Das MMK hat mit der Ausstellung „Amt 45 i“ des US-amerikanischen Künstlers Cameron Rowland Beteiligungen deutscher Unternehmen an der kolonialen Sklavenwirtschaft offengelegt, in einer messerscharfen Inszenierung, die jede:n ihre:r Besucher:innen in Haftung nahm.
Das Museum der bildenden Künste hat das historische Bild der DDR reicher und komplexer gemacht, indem sie deren internationalen Kulturaustausch in den Blick genommen hat.
Und das Brücke-Museum setzt seit Jahren Standards in der Auseinandersetzung mit der eigenen Sammlung und in deren Neubefragung in Ausstellungen. Lisa Marei Schmidt und ihrem Team an dieser Stelle einen ganz besonderen Dank für die Ausrichtung der diesjährigen Feierlichkeiten!

Seit 1992 kürt die AICA die „Ausstellung des Jahres“; seit 1996 die „Besondere Ausstellung“ des Jahres; und seit 2004 das „Museum des Jahres“. Wobei das Museum des Jahres jeweils Gastgeber:in ist. Im letzten Jahr waren es die Kunstmuseen Krefeld, im Vorjahr das Kunstmuseum Stuttgart. Alle bisherigen Preisträger finden Sie auf unserer Website, deren Relaunch wir heute ebenfalls feiern: www.aica.de.

Aber wer ist eigentlich die AICA?

Die Internationale Kunstkritikervereinigung AICA wurde 1948/49 in Paris gegründet und durch die UNESCO anerkannt. Sie bildete das Gegenstück zum internationalen Museumsverband ICOM. Damals war es selbstverständlich, dass zum Wiederaufbau der kulturellen und mentalen Infrastruktur nach dem Faschismus, dem Zweiten Weltkrieg und der Schoah nicht nur Museen gehören, sondern auch die Kunstkritik: als Garantin eines lebendigen, öffentlichen, freien Gesprächs über Kunst.

Die AICA International zählt heute über 5000 Kritiker:innen aus 95 Ländern. In der deutschen Sektion des Kritikerverbands AICA sind wir rund 230 Kunstkritiker:innen aus unterschiedlichsten Generationen und Prägungen: vom 1936 geborenen Laszlo Glozer, der in den 1960er Jahren Joseph Beuys mitentdeckte, bis zur 1995 geborenen Sophia Roxane Rohwetter, erste Preisträgerin des neuen AICA-Preises für junge Kunstkritik. Der Verein ist Berufsverband, intellektuelles Forum und Interessensvertretung der Kunstkritik. Er setzt sich ein gegen Zensur und für die Stärkung der Kunstfreiheit.

Auch die heutigen Auszeichnungen sind eine Stütze der Kunstfreiheit. Sie würdigen die gründliche Arbeit von Expert:innen, die derzeit keinen leichten Stand haben. Denn überall wird heute Eindeutigkeit verlangt: Eindeutigkeit der Aussagen, Eindeutigkeit der politischen Gesinnung. Die Expert:innen der Kunst aber sind Expert:innen für einen entscheidenden Bereich der Menschlichkeit, der heute oft vergessen wird oder unter Druck gerät: den, wo es keine Eindeutigkeiten gibt. Keine Wissenschaft kommt ohne Interpretation aus. Aber in der Physik, in der Rechtswissenschaft oder der Wirtschaftswissenschaft gibt es feste Regelsysteme, und es gibt Methoden, objektive Fakten zu beschreiben. Gelungene Kunst aber misst sich daran, dass sie genau das Gegenteil der Regelerfüllung hervorbringt: Sie bringt Einzelfälle hervor, die ihre eigenen Regeln aufstellen. Deshalb ist Kunst mitunter so schwer zu verstehen. Und deshalb ist es manchmal schwer, ihr zu vertrauen.

Bei Kunst haben wir es nicht allein mit objektiven Fakten zu tun. Aber auch nicht mit subjektiven Ansichten, Meinungen oder Geschmack. Sondern mit einem entscheidenen Zwischenbereich: den, wo individuelles Erleben in Reibung gerät mit den Sprachen, in denen wir uns verständigen, und etwas völlig Neues hervorbringt. An Meisterwerken prallt jede bestehende Beschreibung ab. Sie fordern neue Beschreibungen. Diese liefert die Kunstkritik. Kunstkritik ist Einzelfallwissenschaft. Sie kann die Eigenlogiken beschreiben, die Kunstwerke entwickeln. Das Ungesehene, das Ungesagte. Aber mehr noch: Sie kann neue Formen erkennen, die es überhaupt erlauben, etwas zu gestalten, auszudrücken, zu sehen, zu sagen. Hier kommt das Neue in die Welt.

Kunstfreiheit hängt entscheidend davon ab, dass Expertenwissen gewürdigt und belohnt wird; von der Öffentlichkeit, aber auch von politischen Entscheidungsträger:innen. Wir brauchen deren Vertrauen in Expert:innen; in kuratorische Kompetenz. Dieses Vertrauen kann die Kunstkritik herstellen, die die Interessen der Kunst und des Publikums auch mal gegen die Institutionen und vor allem gegen den Markt verteidigt.

Es wird in den letzten Jahren und Monaten viel über Kunst gesprochen. Erstaunlicherweise aber meist ohne Einbezug der Fachexpertise der Kunstkritik. Die Gewalt, mit der Menschen über einen Kamm geschoren werden, findet ihre Entsprechung in der Gewalt, in der die Kunst oder die sogenannte Kunstszene über einen Kamm geschoren wird. So aber bekommen wir nicht einmal die Gegenstände zu fassen, über die wir glauben zu sprechen. Eine gelungene Kulturpolitik; auch eine gelungene Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus kann nur gelingen, wenn wir die Eigenlogiken der Kunst und ihrer Produktion verstehen. Das können wir Kunstkritiker:innen. Kritik ist nicht Austausch persönlicher Meinungen. Kritik ist ein Werkzeug, durch das Streit verwandelt werden kann in gemeinsame Klärungsprozesse nach gemeinsamen Regeln.

Stellt Euch einmal eine Wirtschaft vor ohne Wirtschaftsjournalismus. Stellt Euch einmal die Politik vor ohne Politikjournalismus. Wollen wir uns eine Kunst ohne Kunstkritik vorstellen? Eine Öffentlichkeit, in der Kunst zum reinen Punching Ball wird in ideologischen Kulturkämpfen? In der wir uns nicht mehr über Werke unterhalten, sondern nur noch über politische Meinungen? Und wir einander voller Misstrauen gegenseitig überprüfen und der falschen Gesinnung überführen? Wir stecken mittendrin.

Dieses Misstrauen muss aufhören. Wir brauchen Vertrauen. Vertrauen ineinander. Vertrauen in die Verfahren der Urteilsfindung. Kritik schafft dieses Vertrauen. Sie arbeitet entlang genauer Beschreibungen, legt ihre Argumente offen, zeichnet die Grenzen dessen nach, was man überhaupt wissen kann und was nicht. Kunstkritik pflegt die Verfahren, sie formuliert die gesellschaftlichen Einsätze, die auf dem Spiel stehen und bringt jeden Einzelfall zum Recht. Kritik ist, was diese Gesellschaft zusammenhalten kann: ihre Genauigkeit; und, in diesen Tagen vielleicht mit das Wichtigste: ihre Kenntnis der Historie.

Die entscheidenden Dinge sind nicht schwarz-weiß. Weder in der Kunst noch im Leben. Kunstkritik fördert das Aushalten von Ambiguitäten, von Mehrdeutigkeiten. Und weil in einer von Algorithmen und Migration bestimmten Welt Mehrdeutigkeiten nur zunehmen werden – auch wenn ein populistischer Furor versucht, sich gegen sie abzuschließen –, brauchen wir Fachexpertisen wie die Kunstkritik.

Die Beschäftigung mit den Mehrdeutigkeiten der Kunst schenkt uns jene Mischung aus Gelassenheit, Genauigkeit und Weitblick, welche immer die besten Entscheider:innen und Politiker:innen ausgezeichnet hat. Die uns hilft nicht aus der Ruhe zu kommen. Die Grenzen der eigenen Kontrolle zu erkennen und damit leben zu lernen, dass sich nicht alles kontrollieren und ideologisch einhegen lässt. Aber Kunst kann all das nur tun, wenn wir in der Lage sind, uns kritisch mit ihr auseinanderzusetzen. Dabei hilft uns die Kunstkritik.

Das Besondere an diesen Preisen, die wir heute feiern, ist, dass sie von Kritiker:innen verliehen werden. Hier belohnt sich nicht die Kunstwelt selbst; hier werden Leistungen zelebriert auf Basis akribischer Analyse. Die Mitgliederversammlungen, auf denen wir die Vorschläge der Juries diskutieren, sind Sternstunden fachlichen Austausches.
Herr Chialo, wir stehen zur Verfügung, wenn Sie unabhängige Expertise brauchen. Hier sind viele Kolleg:innen aus der AICA versammelt. Lassen Sie uns miteinander ins Gespräch kommen.

Ich bin heute im Hauptberuf leitender Kurator am K21 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Aber die längste Zeit meines Erwachsenenlebens war ich Kunstkritiker. Hier in Berlin, mit seiner weltweit einzigartigen und für viele anderer Städte vorbildlichen Infrastruktur der Kunstförderung. Ich habe diese Infrastruktur, die aktuell bedroht ist, wachsen sehen und den Prozess als Journalist begleitet: Die Recherche-Stipendien. Die Künstlerhonorare. Das Atelier-Programm. Künstler:innen haben diese Stadt gebaut. Aber wer hat den Mörtel gerührt? Wer hat dafür gesorgt, dass alles hält, und dass die Öffentlichkeit unterstützt und das Interesse nicht verliert? Die Kritiker:innen.

Mit den Auszeichnungen feiern wir heute eine der stärksten und vielfältigsten kulturellen Landschaften weltweit; einen öffentlichen Reichtum, den es so nur im föderalen Deutschland gibt. Diese Landschaft wird in diesen Tagen noch etwas reicher. Ich darf neben unserer neuen Website, die wir als AICA heute launchen, noch eine weitere schöne Neuigkeit bekannt geben. Wie Sie wissen, gibt es viele Kunstpreise, aber wie viele Preise für Kunstkritik kennen Sie? Bis zu diesem Jahr gab es nur einen; nun gibt es zwei. Im April konnten wir dank des Engagements der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung den ersten AICA-Preis für Junge Kunstkritik verleihen, an Sophia Roxane Rohwetter. Heute darf ich einen weiteren Preis für Kunstkritik ankündigen: Die Jürgen Ponto Stiftung engagiert sich mit 30.000 Euro pro Jahr für ein neues Stipendium mit einer besonderen Architektur: In einem zweistufigen Verfahren wird ein:e Kritiker:in ausgewählt; diese:r bestimmt ihrer- oder ihrerseits eine:n Künstler:in, mit dem/der sie/er gemeinsam eine Publikation erarbeitet. Ich darf an dieser Stelle den geschäftsführenden Vorstand der Jürgen Ponto Stiftung, Ralf Suermann, ganz herzlich begrüßen.

Lieber Herr Kultursenator, auf Bundeslandebene lassen sich hier immer noch Zeichen setzen. Seien Sie der erste Kultursenator, der einen Preis für Kunstkritik auslobt, einen Berliner Preis für Kunstkritik. Sie könnten ihn benennen nach Max Osborn.

Max Osborn war Präsident des Verbandes deutscher Kunstkritiker und von 1914 bis 1933 Kunstkritiker der Vossischen Zeitung. Unter seinen vielen Büchern ist auch eine Gesamtdarstellung der Berliner Kunstgeschichte in der Reihe „Berühmte Kunststätten“. Die Bücher des Juden Max Osborns fielen den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten zum Opfer. 1938 floh Osborn nach Paris, 1941 weiter in die USA, wo er 1945 verstarb.

Nun aber wird gefeiert. Herzlichen Dank den Juries und ihren Vertreter:innen, die heute sprechen, in dieser Reihenfolge:
Gregor Quack, Sarah Alberti und Eckhart Gillen.

Danke Carsten Probst für die Koordination der Jury-Arbeit.
Danke Ellen Wagner für die Koordination von ungefähr allem in der AICA; zuletzt der redaktionellen Umsetzung des Redesigns der AICA.

Eine gute Kunstkritik kann sein wie ein guter Song: Sie verführt, sie reißt mit, sie bringt die Seele zum Tanzen. Sie öffnet etwas neues. Wir alle lechzen nach diesem Nektar. Lasst Nektar fließen.

Uns allen ein wunderbares Fest!

Die Ausgezeichneten und Juror:innen der AICA mit dem Vorstand
Susanne Pfeffer und Lukas Flygare beim Festakt zu den AICA-Auszeichnungen 2023
Laudatorin Sarah Alberti, Carsten Probst und das Team des Museums der bildenden Künste in Leipzig
Festakt zu den AICA-Auszeichnungen 2023
Kolja Reichert, Festakt zu den AICA-Auszeichnungen 2023
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