2017: „Surreale Sachlichkeit. Werke der 1920er und 1930er Jahre aus der Nationalgalerie“, Sammlung Scharf-Gerstenberg, Berlin-Charlottenburg
„Surreale Sachlichkeit“ war ein weiterer – und glücklicher – Versuch im Umfeld von Udo Kittelmann, die Sammlung der Neuen Nationalgalerie neu zu deuten. Schauplatz war der Stüler-Bau in Charlottenburg, also das Haus der Sammlung Scharf-Gerstenberg, und deren Kuratorin Kyllikki Zacharias zeichnete dafür verantwortlich.
Tatsächlich gibt es einen „realen“ Kern im Surrealismus, aber mehr noch ein Spiel mit Verfremdung und Traum, dem das Etikett „Neue Sachlichkeit“ in keiner Weise gerecht wird. Das kuratorische Spiel mit dem paradoxen Titel – „Surreale Sachlichkeit“ – ging voll auf: Man wurde hineingezogen in die Zeit, aus der die Kunst stammt: eine dichte und gut besuchte Ausstellung von Malerei hauptsächlich, aber auch Fotografie und Skulptur, in einem Gebäudetrakt, dem eine schon fast klösterliche Stille eigen ist. Es gab drei Ordnungskriterien: „Räume“, „Dinge“ und „Menschen“. Die Abteilung „Menschen“ wiederum war gegliedert in: „Mensch und Werk“, „Accessoire und Haltung“, „Familienaufstellung“, „Unreine Liebe (Lust und Elend des Fleisches)“ und „Das monströse Kind“. Allein Otto Dix‘ „Kinderbildnis“ von 1932 sah man da mit anderen Augen: die Monstrosität eines gut gepolsterten Babys, das man später einmal als „Trümmerkind“ bezeichnen wird; vielleicht sogar „Flakhelfergeneration“.
Während einige Monate später die Schirn-Ausstellung „Glanz und Elend der Weimarer Republik“ zeigen sollte, wie man aus Kunstwerken Quellenwerke schmiedet – also sie eindeutig macht – , tauchte man in Berlin ein in die malerischen Problematiken von Sujet, Genre, Fläche, Linie und Farbe. Die Kuratorin schreibt im Katalog: „Die Entdeckung der Gemeinsamkeiten zwischen Neuer Sachlichkeit und Surrealismus ist nicht neu. Es war Wieland Schmied, der sich diesem Thema in besonderem Maße gewidmet hat.“ Sie erwähnt „Neue Sachlichkeit und Realismus“ (Hannover 1969), „Die neue Wirklichkeit – Surrealismus und Sachlichkeit“ (als Teil von „Tendenzen der Zwanziger Jahre“, Berlin 1977) sowie „Realismus. Zwischen Revolution und Reaktion 1919-1939“ (Paris und Berlin 1980/81). „Nicht die kunsthistorische Nachzeichnung der Einflüsse, Gemeinsamkeiten und Unterschiede – die Schmied bereits vorbildlich geleistet hat – soll in dieser Ausstellung im Vordergrund stehen, sondern erstmals der Blick auf jene schwer zu fassenden psychischen Abgründe gelenkt werden, die sich zwischen, über oder unter den Dingen auftun, die wir als „rein sachlich“ zu betrachten gewohnt sind.“
Verblüfft stand man vor Kurt Günthers „Der Radionist (Kleinbürger am Radio)“ von 1927, oder geriet geradezu ins Grübeln, warum Otto Niemeyer-Holstein sein ganzes Handwerk aufgeboten hatte, um einen eilig abgeworfenen Frack in etwas Lebendiges zurückzuverwandeln. Kabinettartig gehängt und beleuchtet, wurde die Ausstellung jedem Kunstwerk gerecht, in dem sie ihm ihren Platz gab. Die Sammlung ist offensichtlich großartig, aber die Wirkung entstand aus dem spezifischen Blick in sie hinein.
Aus kunstkritischer Sicht ist es ja gar nicht so wichtig, ob Arbeiten neu oder alt sind. Entscheidend ist, dass sich die Präsentation an uns als Zeitgenossen wendet und uns als diese auch erreicht. Ein klug kuratierter Katalog konnte den originellen Ansatz vertiefen. Der Beitrag der Kunsthistorikerin Christina Thomson darin übrigens hieß: „Exotik im Eigenheim. Kleine Kakteen- und Sukkulentenkunde für die neusachliche Malerei“. Der Clou ihres Aufsatzes ist, dass Kakteenbilder keineswegs klassischen Stillleben ähnelten, sie seien nämlich „das Gegenteil der Darstellung von Vergänglichkeit“. Echte Einsichten in Kunstkatalogen sind ein rares Gut geworden.
Die Jury der AICA für die beste Ausstellung des Jahres hatte sich vorgenommen, den Blick in Richtung Osten zu lenken, auf das, was früher einmal „Ostdeutschland“ war. Ich selbst habe viele Jahre in West-Berlin verbracht, aber war als Besucher oft in Ost-Berlin. Um des europäischen Friedens willen hatten wir die Trennung unseres Landes hingenommen, wenn nicht sogar akzeptiert. Daraus ergab sich, dass man Institutionen in West und Ost, so wie sie verfasst waren und sich präsentierten, als nahezu naturgegeben hinnahm. Besuchte ich also damals die Alte Nationalgalerie auf der Museumsinsel, glaubte ich, dass die Bestände, bis ins 19. Jahrhundert zurück, quasi selbstverständlich zur DDR gehörten. So als wären sie durch ein schlüssige Fügung der Geschichte für immer dorthin gelangt. Genau dasselbe dachte ich über die Sammlung im Mies-van-der-Rohe-Bau im Westen. Tatsächlich aber wurden die Sammlungen der Nationalgalerie nach dem Fall der Mauer wiedervereint. Alle ideologischen Deutungen, die dem Kunstgut in der Nachkriegszeit aufgesattelt worden waren, haben sich verflüchtigt, und es bedurfte einiger Ausstellungen und eben auch der Ausstellung „Surreale Sachlichkeit“, um zu verstehen, was diese Sammlung sein kann und auch früher einmal gewesen sein muss.
Dies war, was mich betrifft, die beste Ausstellung des Jahres 2017, in der ich zwei Stunden verbracht habe, und es hätte auch noch länger sein können.
Text: Ulf Erdmann Ziegler