2021: „Lawrence Abu Hamdan, The Witness-Machine-Complex“, Kunstverein Nürnberg – Albrecht Dürer Gesellschaft
Die AICA Deutschland widmet die Auszeichnung „Ausstellung des Jahres“ einem herausragenden künstlerischen Werk und einer beispielhaften institutionellen Leistung des Nürnberger Kunstvereins. Im Festjahr von „1700 Jahre jüdische Kultur in Deutschland“ führte der Nürnberger Kunstverein mit einer Neuproduktion des jordanischen Künstlers Lawrence Abu Hamdan akustisch die Bedingungen vor Augen, unter denen nur wenige Monate nach dem deutschen Menschheitsverbrechen des Holocaust während der Nürnberger Prozesse 1945 bis 1946 Täter und Opfer aufeinandertrafen. In einem Präzedenzfall kam damals erstmals die Technik der Simultanübersetzung zum Einsatz. Sie ermöglichte, die Prozesse zeitgleich auf Russisch, Französisch, Deutsch und Englisch zu führen. Zugleich verlangte die neue Technologie den Zeug:innen neue Leistungen ab.
Liest man die Protokolle der Zeug:innenaussagen, scheint es sich um zusammenhängende Reden zu halten. Hört man dagegen die Aufzeichnungen, erfährt man, wie diese sich regelmäßig unterbrechen und neu ansetzen. Sieht man die Filmaufnahmen, sieht man vor den Zeug:innen Lichter aufblinken. Lawrence Abu Hamdan führt alle drei Quellen nun zum ersten Mal zusammen und rekonstruiert damit die unsichtbar gewordenen Einwirkungen der Technologie an der Schnittstelle von individueller Erfahrung, kollektiver Erinnerung und historischer Wahrheitsfindung. Die Simultandolmetscher:innen gaben den Zeug:innen mit den Lichtern Signale: Ein gelbes Licht wies Sprecher:innen an, langsamer zu sprechen. Drei gelbe Signale bedeuten ihnen, die Stimme zu heben. Ein rotes Licht verlangte eine Wiederholung des Satzes. Die Technologie stammte von der Firma IBM, die auch Lochkartensysteme für den NS-Staat entwickelt hatte, die im Holocaust zum Einsatz gekommen waren.
Mit den Dokumenten von sieben Zeug:innenaussagen rekonstruierte Hamdan in der Arbeit „The Witness-Machine Complex“ (2021) die Akte des Bezeugens: Über Lautsprecher hörte man die originalen Stimmen der Sprecher:innen. Über Projektionen sah man die Verschriftlichung der Aussagen. Rote und gelbe Lampen leuchteten an den entsprechenden Stellen auf. Im Ergebnis wird die Anstrengung ahnbar, die es vor allem für Opfer bedeutete, gleichermaßen auf ihre Erinnerung wie auf die Anforderungen der Aussage zu achten.
Lawrence Abu Hamdan, geboren 1985 in Amman, wuchs im englischen York auf, studierte an der Middlesex University und später am Goldsmith College in London, wo er 2010 den Master of Arts erhielt. 2017/18 war er Teilnehmer des Berliner Künstlerprogramm des DAAD, 2019 erhielt er den Turner Prize. Abu Hamdan bezeichnet sich selbst als unabhängigen „Audioermittler“ oder auch Klangdetektiv, der nicht nur Werke für Galerien und Museen entwickelt, sondern meist als Teil der investigativen Arbeit von Forensic Architecture auch für Schauplätze der Anwalts- und Rechtsarbeit.
In einer Zeit, in der die deutsche Gesellschaft abermals um die richtigen Bezugnahmen auf die historische Schuld und Verantwortung ringt, stemmte sich Hamdans Arbeit in ihrer Nüchternheit und Sachlichkeit wie ein Spreizeisen zwischen emotionalisierte und polarisierende Debatten. Sie richtete den Blick auf technologisch-politische Konstellationen und wirtschaftliche Kontinuitäten und fragte nach dem Ort des Individuums darin.
Die Leistung des Künstlers und des Kunstvereins bestand auch darin, durch den Verzicht auf Interpretation oder Mahnung die Herausforderung an jeden Einzelnen aufrechtzuerhalten, das Gedenken wachzuhalten und historische Verantwortung anzuerkennen und zu leben.