2024: „Aber hier leben? Nein, Danke. Surrealismus + Antifaschismus“, Lenbachhaus München
Die Ausstellung wurde kuratiert von Stephanie Weber, Adrian Djukić und Karin Althaus unter kuratorischer Mitarbeit von Johannes Michael Stanislaus.
Jurorin: Carina Bukuts
Die besondere Ausstellung des Jahres 2024 trägt einen Titel, der sowohl eine Frage aufwirft als auch eine entschiedene Antwort mitliefert: „Aber hier leben? Nein, danke“. Diese Ausstellung, die vom 15. Oktober 2024 bis zum 30. März 2025 im Münchner Lenbachhaus zu sehen ist, beleuchtet die enge Verbindung zwischen Surrealismus und Antifaschismus. Sie verdeutlicht, dass der Surrealismus nicht nur eine künstlerische Bewegung war, sondern auch eine politische Haltung – gegen Faschismus, Kolonialismus und Kapitalismus.
Als Schreibende bin ich seit jeher daran interessiert, aus welcher Motivation heraus, Ausstellungen entstehen. Sei es, um eine individuelle künstlerische Praxis zu zelebrieren, diese nach geraumer Zeit neu zu kontextualisieren oder Gruppenausstellungen zu entwickeln, die Werke unter einer gemeinsamen Fragestellung versammeln und so Relationen, historische Kontinuitäten oder Brüche sichtbar machen. Wenn gekonnt ausgeführt, können dies gute Gründe sein, um eine Ausstellung auszuzeichnen. Seit den letzten fünfzehn Jahren gibt es – glücklicherweise – eine Tendenz, künstlerischen Arbeiten Raum zu geben, denen lange Zeit der Eingang in deutsche Ausstellungshäuser, Museen und Sammlungen verwehrt wurde. Es ist das große Projekt, das, was als vermeintlicher Kanon der Kunstgeschichte gilt, in Frage zu stellen. Auf beispielhafte Art hat auch das Lenbachhaus mit einer Vielzahl von Ausstellungen – wie zuletzt 2021 mit ihre Doppelausstellung „Gruppendynamik: Der Blaue Reiter“ und „Gruppendynamik: Kollektiv der Moderne“ – an diesem Projekt mitgewirkt.
Nun ist der Preis der AICA, den ich dieses Jahr vergeben darf – und darüber bin ich mir bewusst – aber keiner, der die kontinuierliche Arbeit eines Hauses würdigt, sondern eine Ausstellung, die neue Maßstäbe setzt. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass einer der Stärken einer guten, gar einer besonderen Ausstellung ist, wenn es ihr gelingt, den Kontext, aus welchem heraus sie entsteht, für andere greifbar zu machen. Ausstellungsmachen ist schließlich keine Praxis, die in Isolation passiert, sondern oft materialisieren sich gewisse Präsentationen nur, weil ihnen andere vorausgegangen sind, die den Blick geschärft haben. Und ich würde behaupten, dass es diese Transferleistung ist, die es ermöglicht hat, dass „Aber hier leben? Nein, danke“ eine so gelungene Ausstellung geworden ist. Sie ist keineswegs ein kleines Projekt ist, aber dafür eine kleine Überraschung.
Denn anders als die vielen Ausstellungen, die anlässlich des 100.-jährigen Jubiläums des Surrealismus an vielen anderen Häusern in Deutschland sowie im Ausland organisiert wurden, sucht man in München vergeblich nach vermeintlichen surrealistischen Ikonen wie den schmelzenden Uhren Salvador Dalís oder der pelzigen Tasse von Meret Oppenheim. Stattdessen begegnet man den humorvollen Fotografien der ungarisch-mexikanischen Künstlerin Kati Horna, die sie in Zusammenarbeit mit dem jüdischen Illustratoren Wolf Hamburger geschaffen hat, einer Vielzahl von beeindruckenden Gemälden des kubanischen Künstlers Wifredo Lam oder einer von Remedios Varo angefertigten Karikatur des spanischen Diktators Franco. Und auch wenn gleichermaßen Figuren wie Max Ernst, Claude Cahun und Pablo Picasso ihren Auftritt haben, haben die Kurator:innen der Versuchung widerstanden, einen kalkulierten Blockbuster zu machen.
Es ist dieser Widerstand, an dem sich für mich das Kuratieren als kritische Praxis erkennen lässt. Überraschend ist eben nicht lediglich die Auswahl von Werken, sondern auch von Dokumenten, die sorgfältig aus Archiven, Bibliotheken und Nachlässen zusammengetragen worden sind, um den politischen Aktivitäten der Künstler:innen des Surrealismus Rechnung zu tragen.
Ein wahres Fundstück sind beispielsweise die „Paper Bullets“, die Claude Cahun und Marcel Moore während der Besetzung der Kanalinsel Jersey durch Hitlers Truppen heimlich in Telefonbüchern platzierten oder den Wehrmachtsoldaten unauffällig zusteckten, mit dem Versuch, diese zu demoralisieren. Es sind, wie Katja Kraft im Münchner Merkur schreibt, „immerwährende Versuche, kleine Steinchen ins propagandistische Getriebe zu werfen“.
Die Ausstellung besticht jedoch nicht nur durch beeindruckende Einzelaufnahmen, sondern auch in ihrer formalen sowie räumlichen Aufmachung im Kunstbau des Lenbachhauses. Entlang zwölf Kapiteln, die in eine präzise und zugleich spielerische Ausstellungarchitektur eingebunden sind, zeigt „Aber hier leben? Nein, danke“ eindrucksvoll, dass der Surrealismus keineswegs nur eine Bewegung der Pariser Avantgarde war, sondern auch Gruppierungen außerhalb des europäischen Kontinents umfasste: sei es die 1941 in Martinique gegründete antikoloniale Literaturzeitschrift Tropiques, die sich in Opposition zum Vichy-Regime sah und der u.a. die Schriftersteller:innen Suzanne und Aimé Cesaire angehörten oder das surrealistische Kollektiv Art e Liberté in Kairo, die sich in dem Manifest „Vive l’art dégénéré“ mit ihren entarteten Künstler:innenkolleg:innen solidarisierten. Ein anderes Kapitel widmet sich dem Jazzmusiker Ted Joans, der den Surrealismus als transatlantisches Projekt in den 1950ern weiterdachte und als Werkzeug gegen die Unterdrückung von Schwarzen propagierte.
Während Aspekte wie diese in der üblichen Erzählung des Surrealismus entweder gar nicht erst vorkommen oder zur Fußnote verkommen, bilden sie hier das Fundament, um zu vermitteln, dass die Pluralität dem Surrealismus immer schon inhärent war.
Es ist eine Pluralität, die es im 20. Jahrhundert in Deutschland mit der Machtergreifung Hitlers nicht gab. Wenn ich eingangs erwähnt habe, dass einer der Stärken einer besonderen Ausstellung ist, dass ihr Entstehungskontext deutlich wird, so sehe ich in „Aber hier leben? Nein, danke“ den Versuch, der Verantwortung gerecht zu werden, Ausstellungen an einem Ort zu gestalten, der unter der NSDAP als „Hauptstadt der Bewegung“ galt. Wie viele Entscheidungen wurden in den 1930ern in München getroffen, die dazu beitrugen, Künstler*innen ihre Berufe, ihren Besitz, ihre Staatsangehörigkeit und ihre Würde abzusprechen. So dicht die Ausstellung auch sein mag, so ist ihr Ausgangspunkt – wie der Titel bereits vorwegnimmt – die Abwesenheit, die aus diesen politischen Entscheidungen resultiert.
Die Aktualität von „Aber hier, leben? Nein, danke“ ist so offensichtlich wie erschreckend. Sei es in Bezug auf Künstler:innen unserer Gegenwart, die in Deutschland erneut aufgrund ihrer politischen Haltung nicht ihre Werke zeigen können oder denen Förderungen und Preise aberkannt werden oder das erneute bundesweite Erstarken von rechten Parteien. Der italienische Philosoph Alberto Toscano spricht in seinem Buch „Late Fascism“ (2023) davon, dass der Spätfaschismus keine Rückkehr ist, kein Wiederaufleben und keine Wiederholung. Er ist ein Symptom für die toxische Überalterung der modernen Figur des Politischen. Doch wie bekämpft man das Symptom, bevor die Krankheit noch weiter ausbricht? Es wäre vermessen zu glauben, dass Ausstellungen Antworten auf solche Fragen liefern könnten, doch „Aber hier leben? Nein, danke“ ist eine wichtige Erinnerung daran, dass „der Surrealismus“, wie André Breton sagt, „kein ästhetisches Abenteuer [ist], sondern ein Mittel, die Welt zu revolutionieren“. Mit dem großen Zuspruch, den diese Ausstellung erhalten hat, bleibt zu wünschen, dass es noch mehr Versuche geben wird, auf die Freiheit der Kunst so zu insistieren, wie es hier geschieht.
Text: Carina Bukuts