Die Ausstellung wurde kuratiert von Çağla Ilk, Misal Adnan Yıldız und Sandeep Sodhi.

Shortlist-Jury: Elke Buhr, Oliver Hardt, Ursula Grünenwald, Ulrike Lehmann, Carsten Probst

Die Gruppenausstellung „Sea and Fog“ in der Kunsthalle Baden-Baden ist inspiriert vom gleichnamigen Buch der Künstlerin und Dichterin Etel Adnan (1925–2021). Aus der Schwere der Auseinandersetzung mit den beiden das 20. Jahrhundert determinierenden Weltkriegen und ihren Auswirkungen auf die Gegenwart hat das kuratorische Team eine kluge und ästhetisch gelungene Ausstellung entwickelt, die Geschichte und Gegenwart miteinander verbindet.

„Sea and Fog“ besteht aus Arbeiten von 19 zeitgenössischen Künstler:innen aus allen Medien (Malerei, Fotografie, Installation, Skulptur, Video, Sound, Performance) und zwei mit der Geschichte der Kunsthalle verbundenen historischen Positionen, nämlich Käthe Kollwitz und Otto Dix. Die versammelten Arbeiten reflektieren den Schmerz des Krieges und der unfreiwilligen Diaspora in einer Intensität, die ihn für die Besucher:innen nahezu körperlich erfahrbar macht.

Das überzeugende Zusammenspiel der Positionen wird durch großzügige Sichtachsen begünstigt, die die Besucher:innen durch den Parcours leiten. Tonspuren überlappen sich, ohne dass es zu Störeffekten kommen würde. Vielmehr scheinen die Werke miteinander zu kommunizieren und ein vielstimmiges, multiperspektivisches Gefüge zu erzeugen, das die Eindimensionalität der alltäglichen Nachrichten von Krieg, Flucht und Zerstörung weit hinter sich lässt. Die Ausstellung zeigt, was zeitgenössische Kunst vermag, wenn die Inszenierung politischer Themen auf die künstlerische Reflexion der eigenen bildnerischen Mittel vertraut. Dabei überzeugt insbesondere, dass die meisten Arbeiten erst in jüngster Zeit entstanden sind und in einen künstlerischen Dialog sowohl mit der Gegenwart als auch mit den historischen Positionen treten.

„Sea and Fog“ ist ein überzeugendes Beispiel dafür, wie aus einem außerkünstlerischen Thema heraus eine Ausstellung entwickelt wurde, die künstlerisch bedeutsam ist, weil an keiner Stelle die Kunst eine These illustriert, sondern im Gegenteil: Starke künstlerische Positionen entwickeln eigene ästhetische Diskurse, die uns das zentrale Thema nahebringen. Wie riecht Krieg, wie klingt er, was richtet er mit den Körpern und in den Köpfen derjenigen an, die von ihm betroffen sind?

Beispielhaft sei hier nur auf einige wenige Arbeiten hingewiesen: So bezieht sich Yael Bartanas Film- und Soundinstallation Entartete Kunst Lebt (2010) auf das Werk „Kriegskrüppel“ von Otto Dix von 1920, um in einer 16 mm-Dauerschleife eine universelle Parade der Kriegsversehrten entstehen zu lassen. Shilpa Guptas Arbeit „Altered Inheritances – 100 (Last Name)“ (2012–24) besteht aus über hundert gerahmten und in der Mitte zerteilten Fotografien, die in einer fortlaufenden Linie präsentiert werden. Sie beschäftigt sich mit den Biografien von Menschen, die ihren Familiennamen ändern mussten, aufgrund von Krieg, politischer Verfolgung oder gesellschaftlicher Diskriminierung.

Zwei weitere kuratorische Entscheidungen sind besonders hervorzuheben: da ist zum einen die ebenso schlichte wie effektvolle Inszenierung des kleinformatigen Gemäldes „Untitled“ (2012) von Etel Adnan, das an der Stirnseite des großen Eingangssaales platziert ist. Es entfaltet in dem von Weiß und Grau dominierten Raum eine unerwartete Leuchtkraft. Adnan tritt hier als eine Malerin hervor, die es versteht, die Vergangenheit strahlend und uneinholbar zugleich zur Anschauung zu bringen.

Zum anderen der Film „There‘s a Hole in the World Where You Used to Be“ (2024) von Mariam Ghani, der in einer schnellen Abfolge von Bildern und Tonsequenzen eine Atmosphäre der Verunsicherung erzeugt, indem er kurze friedvolle Momente schnell ins Zerstörerische kippen lässt. So folgt auf die heitere Eingangssituation eines Paares in einem gepflegten Garten und die Abendansicht einer Stadt am Meer mit Feuerwerk ein Grollen und Leuchten, die sofort an einen Bombenangriff denken lassen. Der in fünf Kapitel untergliederte Film lebt von Ahnungen und Assoziationen. Ein am Ende wie beiläufig eingeblendeter Satz beschreibt die permanente Erfahrung von Krieg und Zerstörung in politisch instabilen Regionen: „There is no after, only a through.“

Mit der Ausstellung legt die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden auch einen Teil ihrer eigenen institutionellen Geschichte frei und fragt, was 1914, fünf Jahre nach Entstehung der Staatlichen Kunsthalle und zu Beginn des Ersten Weltkrieges in Baden-Baden passierte und inwieweit der Gründungsmythos des Hauses mit diesem Krieg verwoben ist.

Allein wegen der besonderen emotionalen und künstlerischen Qualität und Dringlichkeit verdient „Sea and Fog“ unserer Ansicht nach die Auszeichnung „Ausstellung des Jahres 2024“. Darüber hinaus möchten wir mit der Auszeichnung auch ein wichtiges kulturpolitisches Zeichen setzen, denn die Kunsthalle Baden-Baden als Ort avancierter zeitgenössischer Kunst ist durch eine kurzsichtige landespolitische Entscheidung akut in ihrer Existenz bedroht. Ab Herbst 2025 soll das Badische Landesmuseum Karlsruhe, das sanierungsbedingt für mehrere Jahre schließen muss, die Kunsthalle Baden-Baden als Interimsspielstätte nutzen. Im Zuge dieser Entscheidung wurde auch der Vertrag mit Direktorin Çağla Ilk beendet – fataler Ausdruck einer Politik, die ein ambitioniertes kuratorisches Programm nicht zu schätzen weiß, wie es vor allem in kleineren Städten in Deutschland immer seltener anzutreffen ist.

Text: Oliver Hardt und Ursula Grünenwald