2009 Bericht vom 41. AICA-Kongress in Sao Paulo

Bericht vom 41. AICA-Kongress in Sao Paulo

Zum zweiten Mal fand ein AICA-Kongress in Brasilien statt. Das Thema des 41. Treffens im Oktober in São Paulo lautete: „The Institutionalisation of Contemporary Art: Art Criticism, Museums, Biennials and the Art Market". 1959 - vor fast einem halben Jahrhundert - hatte die AICA zum ersten Mal Brasilien mit ihrem Kongress besucht - anlässlich der Einweihung der neuen Hauptstadt Brasilia auf Einladung von Staatspräsident Juscelino Kubitschek, damals in der neuen Hauptstadt Brasilia. Der aktuelle Kongress unter der Leitung der brasilianischen Sektion, der „abca", tagte in einem der Auditorien der Universidade de São Paulo (USP), gleich neben dem Museu de Arte Contemporanea (MAC), des zur Universität gehörenden Museums für Gegenwartskunst auf dem Campus.

Schon der Eröffnungsvortrag des früheren internationalen AICA-Präsidenten Jacques Leenhardt aus Paris umkreiste die Tatsache, dass Kritik und kuratorische Praxis sich immer mehr angleichen, nicht nur in den Personen, sondern auch in der Methode, den Kontext zu berücksichtigen. Und aus dem Kolumbien der bolivarischen Revolution unter Chavez gipfelte ein emphatisches Referat über Kunst, die im politischen Prozess agiert, in der Aussage: „The idea of Quality is a social agreement!". Dort also versteht man die Kunst noch als Kampf - ein schönes Beispiel für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Kunstkritik kann anscheinend nicht mehr über Werke reden, ohne die spezifischen Kulturen zu berücksichtigen. Das lässt eigentlich nur noch die Darstellung zu. Kritik scheint ohnehin nicht mehr sonderlich gebraucht - es sei denn vom so geförderten Künstler. Immerhin gab es immer wieder Einigkeit, dass Kunst wenigstens ein Anlass für Fragen ist.

Manche der Kollegen aus über dreißig Ländern befassten sich mit den Strukturen ihrer jeweiligen Museumslandschaften, den Neugründungen und Umorganisationen von Institutionen und dem wachsenden Einfluss des privaten Kapitals und der Eventkultur. In diesen oft sehr konkreten Fällen von Sammlungspolitik und Veranstaltungsinteressen bezieht sich Kunstkritik ohnehin kaum mehr auf Werke, sondern versucht, direkt in Kulturpolitik einzugreifen. So gab es Einblicke in das Geschehen um Museumsbauten in Santiago de Chile, in Warschau, Bukarest, Vilnius und Talinn oder in die Querelen im Hintergrund der Biennale São Paulo, über die Finanzierung und das stark pädagogische Konzept der Biennale von Mercosul in Porto Allegre oder über die Schwierigkeiten, die Museen mit den Auktionshäusern haben. Selbst das Problem, in der eigenen Arbeit eigentlich überhaupt nicht wahrgenommen zu werden, wurde beklagt, erstaunlicherweise von der Kollegin aus dem anscheinend gar nicht so abgelegenen Griechenland. Solche problematischen Detailaufnahmen weiten zwar den Blick, können aber aufgrund der doch begrenzten Zeit niemals wirklich vertieft werden.

Es ist auch hier nicht der Ort, einen mehrtägigen Kongress mit Reden und Widerreden erschöpfend zusammenzufassen. Angesichts der Tatsache, dass die Zahl der Kollegen, die an Institutionen gebunden sind, die derjenigen überwiegt, die für die Medien schreiben, könnte als zuspitzendes Resümee gewagt werden: Das wirkliche Kriterium der Beurteilung von Kunst ist die Auswahl des Künstlers für die selbstkuratierte Ausstellung oder das eigene (Katalog)-Buch. Es ist also durchaus schlüssig, dass der nächste, der 42. AICA-Kongress, der für Juli 2008 nach Sydney einberufen ist, sich wesentlich den Fragen der Beurteilungs-Kriterien von Kunst stellt.

Die faszinierende und problematische, 20-Millionen Einwohner (und etwa 8 Millionen Autos) zählende Stadt São Paulo ist die größte und die ökonomische und kulturelle Hauptstadt Brasiliens, ja ganz Südamerikas. Die Zahl der Museen ist gleich hoch wie die der großen Einkaufszentren: über 80. Es ist klar, dass nur die allerwichtigsten davon im Rahmenprogramm besichtigt werden konnten. Gerade in der Woche unseres Besuchs wurde zudem die Gründung eines weiteren Museums bekannt gegeben: Das Gebäude und Areal des DERTRAN, der ehemaligen zentralen Verkehrsverwaltung, wurde vom Gouverneur des Bundesstaates São Paulo dem MAC geschenkt. Dort, gegenüber dem von Oscar Niemeyer errichteten Bau der weltweit zweitältesten Biennale am Iberapuera-Park, sollen die bisher verstreuten Sammlungen der aktuellen Kunst zusammengeführt werden - geplante Eröffnung: 2009.

Die Post-Congress-Tour ging dann von São Paulo ins 1.200 Km südlicher gelegene Porto Allegre und zur kleinen, aber feinen 6. Bienal do Mercosul. Zum Motto: „A Terceira Margem do Rio" = „Das Dritte Ufer des Flusses" konnte der aus Spanien stammende, in Austin, Texas lebende Chefkurator Gabriel Perez-Barreiro umgerechnet knapp fünf Millionen Euro ausgeben.

In den alten Lagerhäusern am Kai des alten Flusshafens am Rio Guaiba wurden Arbeiten von einer konzentrierten Zahl von 67 internationalen Künstlerinnen und Künstlern ausgestellt. Bei freiem Eintritt und aufwendig gestylt gab es drei unterschiedlich organisierte Abteilungen: „Conversas", „Zona Franca" (Freizone, der Kern der Ausstellung) und „Tres Fronteiras" (Ausstellung von Stipendiaten aus den drei Kernländern (Brasilien, Argentinien, Uruguay) des Mercosul, der von einem lockeren Wirtschaftsverbund zu einer Art südamerikanischer Union entwickelt wird). Dazu fanden an anderen Orten der Stadt drei museale Einzelausstellungen statt: Jorge Macchi (Konzeptkunst, Argentinien), Francisco Matto (Plastik und Malerei, Uruguay), Öyvind Fahlström (Brasilien/Schweden).

Besonders interessant ist das Konzept der „Conversas" („Unterhaltungen"): Zwei von den Kuratoren vorgestellte Künstler wählen selbst jeweils eine Arbeit eines weiteren Künstlers dazu, die Kuratoren kommentieren die nunmehr vier Arbeiten mit einer fünften ihrer Wahl - und das ganze bildet dann einen Raumkubus. Neun solcher zusammen gemischten Konversationsräume wurden so gebildet, kleine Kapitel eines Objektdiskurses, zu dem auch noch jeweils eine Rückmeldepinnwand für die Besucher gehörte. Das gleichgewichtig neben der kuratorischen Leitung angesiedelte pädagogische Programm hat einen erheblichen Umfang, es stand unter der Leitung von keinem geringeren als dem uruguayischen Künstler und New Yorker Professor Luis Camnitzer. Gerade die hier und bei vielen weiteren brasilianischen Projekten starke Ausrichtung auf Schüler als Besucher (die dann auch zu Besucherzahlen über Documenta-Höhe führen) zeigt, dass die inhaltlichen Erwartungen an das, was Kunst für die Integration und Bildung der Gesellschaft leisten kann, sich in Südamerika eher höher darstellen als bei uns.

Hajo Schiff, Sao Paolo, im Oktober 2007


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