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2006 Die Rolle des Kunstkritikers

Die Rolle des Kunstkritikers

im Zeitalter des Kurators
Nachdenkliches vom Pariser AICA-Kongress

Eine generelle Wertung des 40. AICA-Kongresses zum Thema "Critical Evaluation Reloaded" fällt schwer, weil die Ansatzpunkte der einzelnen Beiträge derart unterschiedlich waren, dass sie gerechterweise nur unter Berücksichtigung ihrer Voraussetzungen angemessen gewürdigt werden könnten.
Ich beschränke mich deshalb auf meinen persönlichen Eindruck.
Offenbar war das Thema vage genug formuliert, um einer Diskussion über ein unterstelltes Selbstverständnis der Kunstkritik von vorneherein aus dem Wege zu gehen. Geradezu peinlich waren alle Referentinnen und Referenten bemüht -
ich muss mich da weitgehend einschließen - Kriterien einer "„kritischen Bewertung oder neudeutsch bzw. Universitätsjargon: Evaluation" zu benennen.
Andererseits hätte ich mir gerade dies gewünscht, da damit zwangsläufig auch die Frage aufgeworfen worden wäre, wer heute Kunstkritik überhaupt noch braucht - außer den Kunstkritikern selbst.
Ich will deshalb nur ein paar punktuelle Aspekte markieren. Durch die Vermischung kunstkritischer und kuratorialer Tätigkeit schien mir das Gewicht der meisten Beiträge, die ich gehört habe, auf der Praxis in der Kunstvermittlung zu liegen, ohne dass sie die besonderen Bedingungen kunstkritischer Praxis - in welcher Form auch immer - ausdrücklich reflektierten. Auffallend war indes, dass im internationalen Kunstbetrieb das, was in der Öffentlichkeit als "System Kunst" im Luhmannschen Sinne begriffen wird, mehr oder minder ausgespart blieb, sieht man von einigen formel -haften Abscheu-Bekundungen in Richtung einer durchgängigen Kommerzialisierung der Kunst ab. Die nahe liegende Konsequenz, der zufolge Kunstkritik heutzutage die Erhellung der ökonomischen und medialen Zusammenhänge, der Mechanismen, in die "Kunst" eingebettet ist (und immer war), implizieren müsse, zog in den drei Tagen meiner Anwesenheit, so weit ich sehe, niemand. Zwei Gründe mögen dafür ausschlaggebend gewesen sein:
Erstens fehlten im Kongressprogramm sämtliche Globalplayer des Kunstbetriebs - Kuratoren also, wenn ich mich als einen ehemaligen einmal ausnehme, und zweitens scheint die traditionelle Basis für Kunstkritik, das Glacis der Printmedien nämlich, zu erodieren, so dass namentlich die jüngeren Referentinnen und Referenten entweder neue Wege in Sachen Kunstkritik erkundeten und beschrieben - Internet u.ä. - oder sich mangels geeigneter Kommunikationsbühnen auf die direkte Vermittlung zwischen Künstlern und potentiellen Adressaten zurückgeworfen finden, auf die Form direkter Rede. Vor allem gilt dies für die Länder des früheren Ostblocks, für Afrika und partiell Südamerika und vermutlich auch für einige Länder Asiens, die zum Teil die möglichen Adressaten für Kunst überhaupt erst suchen müssen.
Kunst gerät hier zu einer Art Sozialarbeit, die sicherlich notwendig und begrüßenswert ist, sich aber einer "Evaluation" im Geiste kunstkritischer Kriterien entzieht. Allerdings wiesen zwei ältere Kunstkritikerinnen aus den USA in einem Diskussionseinwurf darauf hin, auch in Los Angeles gäbe es so gut wie keine Kunstkritik und dass sie ihre kunstkritischen Bemerkungen nur in einem kommerziellen Galerieführer publizieren können. Lediglich New York besitze so etwas wie ein kunstkritisches Spektrum in den USA.
Trotz manch aufschlussreicher Informationen und auch engagiert vorgetragener Ansichten habe ich den Kongress nach drei Tagen mit zwiespältigen Gefühlen verlassen, um mich als Partikulier ins Pariser Kunstgeschehen zu stürzen und wenigstens ein wenig der Wirkung künstlerischer Werke teilhaftig werden zu können. Erfrischend fand ich noch die Vorträge zweier jüngerer Kunstkritikerinnen aus Argentinien und der Türkei: Eva Grinstein bekannte sich problemlos und überzeugend als "a Parasite: Growing up in the gaps of a modest market und a deserter State", und Ahu Antmen beleuchtete mittels einer Fülle signifikanter Bekundungen führender Kuratoren des internationalen Kunstbetriebs die Rolle der Kunstkritikers im Zeitalter des Kurators, ohne zu einer schlüssigen Definition zu gelangen. Aufschlussreich aber ihr Zitat eines der angesagten türkischen Kuratoren, der behauptete, um erfolgreich im heutigen international vernetzten Kunstbetrieb arbeiten zu können, bedürfe es nicht mehr als der Kenntnisse des Kunstgeschehens der
letzten dreißig Jahre. Basta!

Auch wenn mein kurzer Vortrag sehr viele Komplimente erhielt, hatte ich das Empfinden, einer anderen Zeit anzugehören und im falschen Film aufgetreten zu sein. Kunst ist offenbar nach neuester Deutung alles, was irgendwie Wirkung, und sei sie noch so gering, verspricht, und die Geschichte der Kunst spielt für eine jüngere Kritikergeneration zur Abgrenzung der Kunst von allem anderen (Reinhardtisch gesprochen) augenscheinlich keine Rolle (mehr) - man darf sie getrost ausblenden. Vielleicht ist mein Unbehagen, das etliche ältere AICA-Mitglieder geteilt haben mögen, auch auf die spezifische Atmosphäre des Pariser Kongresses zurückzuführen. Ich hätte gerne unter vier Augen mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen aus nicht-westlichen Ländern ausführlicher geredet. Aber derlei war nur in den Pausen des dichten Programms möglich oder aufgrund einer privaten Einladung zum Essen o. ä am "freien" Abend. Dazu jedoch fehlte ein informelles non-haptisches Abtasten. Denn spezielle Empfänge oder gemeinsame Lunches oder Dinners, als Möglichkeiten, sich in lockerer Atmosphäre kennen zu lernen, gab es nicht. Nicht einmal ausreichend Kaffee oder Wasser wurde offeriert. Es war der nüchternste AICA-Kongress, an dem ich partizipiert habe, und der stimmungsloseste obendrein. Es war ein Kongress wie in einem Land der "Dritten Welt", mit dem entscheidenden Unterschied, dass sich ein Land der "Dritten Welt" einen solch poveren Kongress nicht geleistet haben würde. Die französische Kunstkritik, jedenfalls die in der AICA hier repräsentierte, scheint sich inzwischen im Status der „Dritten Welt" wohl zu fühlen oder was sie dafür hält.

Klaus Honnef, Paris, im Oktober 2006

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